Herr Dr. Morgenstern, mehr als 98 Prozent unserer Gene haben wir gemeinsam mit Gorillas, Schimpansen und unserem Vorfahren, dem archaischen Homo sapiens vor 200 000 Jahren. Woran haben Sie den Steinzeitmenschen heute schon in sich selbst gespürt?
Der machte sich bemerkbar, als ich am Morgen rausging und dachte: «Oh, es regnet, es ist kalt. Geh zurück in die Höhle!» Der Mensch ist ein Säugetier, also konstant warm. Regen kühlt uns ab, das mögen wir nicht so gerne. Zoologisch gesehen ist der Mensch ein wenig behaarter subtropischer Affe. Das heisst, bei der Evolution sind wir in den Subtropen hängen geblieben. Mit Köpfchen haben wir uns Behausungen und Kleidung geschaffen. So konnten wir auch in nordischen Gefilden überleben. Aber unsere Biologie zieht uns in die Sonne.
Woran bemerken Sie den Affen oder Steinzeitmenschen in unserer Gesellschaft?
Wir betrachten zum Beispiel alles durch die Brille der Vernunft – und scheitern regelmässig damit. Denn Säugetiere sind immer emotional, wir denken, sprechen, handeln stets aus einem Gefühl heraus.
Manchmal fassen wir uns bei politischen Entscheidungen an den Kopf und sagen: «Das war doch nicht vernünftig!» Aber irgendwer fand das mal vernünftig.
«Der Mensch ist für einen Sechs-Stunden-Arbeitstag in der Natur gebaut worden.»
Auf was basieren Ihre Kenntnisse und Ihre Tipps zum Umgang mit unserem genetischen Erbe?
Es gibt den Forschungsstrang «Evolutionäre Psychologie» und ein schönes Buch gleichen Namens von Professor David Buss. Ein wunderbares Lehrbuch. Dort werden Dinge erklärt wie: Warum mögen Männer Frauen mit einer Sanduhrfigur? Antwort: Sie können nicht schwanger sein. Oder: Was soll man essen? Noch vor 40 000 Jahren war die Ära der Jäger und Sammler. Wenn ich heute das esse, was ich jagen und sammeln kann, mache ich nichts falsch. Man kann sich auch fragen: Warum entstehen mentale Probleme? Hatten die Steinzeitmenschen die auch? Ab und zu besuche ich die Buschleute in Namibia, ein Naturvolk. Depressionen etc. – das haben die nicht.
Sie verlangen eine artgerechte Haltung für den Affen in uns. Wie sieht die aus?
Wir müssen zum Beispiel verstehen, was Stress bedeutet. Evolutionär gesehen ist Stress eine ganz natürliche Sache, ein Mechanismus, der sich aktiviert, wenn es ein Problem gibt. Wenn es vor 40 000 Jahren ein Problem gab, hatte es häufig lange Zähne und sagte: «Ich esse dich auf.» Dann musste man ganz uncool den Körper bereit machen, um zu kämpfen oder zu flüchten.
Dieses Programm bedienen wir heute mit Stau, zu viel Arbeit, Ärger mit dem Chef, was auch immer. Jedes Mal, wenn wir denken «Oh, ein Problem!», aktiviert sich das Stresssystem. Das macht stark, aber auch ein bisschen doof. Der Körper ist aufgeladen, jetzt braucht er Bewegung. Bewegen wir uns nicht, konservieren wir die Energie in Form muskulärer Anspannung. Heute haben wir zehn, zwanzig Probleme am Tag, drücken also immer wieder auf dieselbe Taste, die den Körper hochfährt. Und das führt zur Überlastung. Bewegung ist ein Superventil, um Stress loszuwerden, ein ganz natürliches biologisches Ventil.
«Wenn es vor 40 000 Jahren ein Problem gab, hatte es häufig lange Zähne und sagte: «Ich esse dich auf.»
Was gehört weiter zur artgerechten Haltung?
Wir müssen etwa wissen: Der Mensch ist für einen Sechs-Stunden-Arbeitstag in der Natur gebaut worden. Danach und dazwischen hatte er viel Zeit, die Füsse hochzulegen. Das machen wir heute viel zu wenig; wir denken immer, wir müssten noch was tun.
In Schweden gibt es einen Trend zum Sechs-Stunden- Tag. In Finnland liegt die Wochenarbeitszeit in Vollzeit bei knapp 39 Stunden. Problem: Der Mensch ist unendlich gierig, er hat keinen natürlichen Begrenzer im Kopf. Früher war die Natur sein Begrenzer. Man könnte also diskutieren: Tut es unserer Gesundheit gut, wenn Fitnessstudios 24 Stunden aufhaben oder wir bis 22 Uhr einkaufen können? Diese Grenzenlosigkeit macht uns närrisch. Und das Handy ist auch so ein Teufelswerkzeug, das bespasst uns permanent.
Sie schreiben über sich, Sie würden sich auch selbst jeden Tag in artgerechter Haltung üben. Wie sieht das aus?
Nehmen wir an, die Steuererklärung muss fertig wer-den. Steuern zahlen heisst für mich als Selbstständiger ja nur: Geld ist weg. Ich kriege keine direkte Gegenleistung. Dementsprechend unattraktiv ist der Vorgang. Wenn das Problem Steuer nicht akut ist, werde ich es verschieben. Ich «müsste» es tun. Dieses «müsste», der Konjunktiv, ist das schlechte Gewissen, das mir immer sagt: «Nee, du kannst jetzt nicht im Garten sitzen und Kaffee trinken. Du müsstest anfangen, die Unterlagen zusammenzusuchen.»
Die artgerechte Haltung ist hier: Ich muss mich zuerst in der Situation erkennen. Ich sage mir: Du bist gerade bei «Du müsstest», aber du wolltest eigentlich in der Sonne Kaffee trinken. Sobald wir glauben, wir müssen oder müssten, denkt das Gehirn: Das ist jetzt! Der Bär in der Steinzeit, der kam nicht in fünf Minuten oder morgen, der war immer jetzt. Schritt zwei: Loslassen. «Steuererklärung ist morgen. Jetzt sitze ich im Garten und trinke Kaffee.»
Was konkret können Führungskräfte im Coaching von Ihnen lernen?
Das klassische Thema in der Führung ist Veränderung, Change. Wie kann ich den Change-Prozess so gestalten, dass die Leute mitgehen? Da erkläre ich: Der Affe in uns will keine Veränderung von aussen. Er will selbst auf die Idee kommen. Wenn eine Firma sagt, wir verändern uns, erzeugt das Widerstand und sorgt für Stress. Wir sehen ein typisches Kampf- und Flucht-verhalten in der Belegschaft. Wenn Kämpfen oder Flüchten aber nicht geht, löst der Körper das System Totstellen aus. Vor Angst. Und Angst ist Passivität. Eine geängstigte Belegschaft wird passiv.
Was tun Sie, um das Problem zu lösen?
Ich sage: erst mal rein in den Mist, rein in das Problem. In der Psychologie heisst das Katharsis. Am besten sagt man den Leuten: «Ja, das ist Mist. Ihr habt keinen Bock drauf, ich auch nicht.» Und dann gibt man ihnen Gelegenheit, die innere Stimme rauszulassen. Sonst dreht es drinnen. «Was soll das? Warum machen die das? Ich habe nichts davon, ich verliere meine Kolle-gen!» Die Leute kotzen sich aus. Und das ist nicht in fünf Minuten getan.
«Der Mensch ist unendlich gierig, er hat keinen natürlichen Begrenzer im Kopf.»
Jetzt sind beide im Minusbereich, der Chef und die Belegschaft. Wie kommen sie wieder raus?
Irgendwann kommt nichts mehr. Dann kann man sagen: «Okay, wir können es nicht ändern. Was ist die Lösung?» Die Leute hatten das Problem im Fokus, hatten Stress. Wo das Problem ist, ist aber nicht die Lösung. Der Mensch, muss man wissen, ist nicht gemacht, um glücklich zu sein. Wir sind gemacht, um möglichst lange zu überleben. Das heisst, solange der Kopf denkt «Ich habe ein Problem», kann er sich nicht auf anderes konzentrieren. Problem hat da oben immer Vorfahrt. Erst dann bekommt die Lösung Raum: «Wie gehen wir konstruktiv damit um, als System, aber auch individuell?»
Eines Ihrer Vortragsthemen lautet: «Der Gorilla im Homeoffice. Mit sechs einfachen Tricks gesund, gelassen und gut drauf.» Können Sie ein paar zusammenfassen?
Das eine ist, echte Pausen zu machen. Beim Home-office sind die To-dos meines Privatlebens vermischt mit den To-dos meines Jobs. Häufig geht man in der Pause von der einen To-do-Liste zur anderen. Es gilt also zu planen: Wann mache ich Pause? Was mache ich da?
«Der Mensch, muss man wissen, ist nicht gemacht, um glücklich zu sein. Wir sind gemacht, um möglichst lange zu überleben. »
Weiter: Ich sitze mit dem Laptop in meiner bequemen Höhle auf dem Sofa, muss mich also nicht bewegen. Wenn ich aber viel sitze, falle ich zusammen. Eingeengter Brustraum, niedriger Blutdruck, der Stoffwechsel geht runter. Ich fühle mich nicht gut. Auch hier muss ich daher planen: Wann gehe ich raus aus der Höhle? Wenn ich das tue und mich danach frage «Wie geht es mir jetzt?», merke ich: «Deutlich besser!» Meine Empfehlung: Guckt, wie Kinder sich verhalten. Die sind auf den Läufen, bis sie müde sind. Dann erst setzen sie sich. Und sobald der Akku voll ist, wollen sie nicht mehr sitzen.
Dann, ganz wichtig: die Arbeitszeit begrenzen, ein Übergangsritual finden. Das Ritual in der Firma: Ich mache die Tür zu und steige in den Bus. Aber zu Hause? Wo ist die Grenze? Es braucht ein Ritual.
Ein weiteres wichtiges Thema von Ihnen: «Besser schlafen, aber wie?» Bitte drei Tipps.
Ich muss zuerst den eigenen Biorhythmus erkennen. Wann werde ich abends müde? Zu der Zeit sollte ich ins Bett. Wenn die Welle kommt, sollte ich sie nehmen. Gehe ich über den toten Punkt hinweg, werde ich wieder wach.
Der zweite kleine Tipp: Wir müssen am Abend alles unterlassen, was den Körper hochfährt. Habe ich noch Stress vom Tag? Dann hilft eine kleine Abendrunde. Alkohol? Besser vermeiden, denn Alkohol ist Energie, fährt den Körper hoch. Wann esse ich das letzte Mal abends? Am besten bis drei Stunden vor dem Schlafen. Leichtes Essen, leicht verdaulich.
Dann: Tageslichtquellen am Abend vermeiden, Blaulicht – Laptop, Fernseher, Handys. Man kann einen Filter einstellen. Oder, da schwören viele drauf, rote Brillen tragen, sozusagen Lagerfeuerbrillen. Die Steinzeitmenschen sassen abends am Feuer, da war nicht viel Licht und wenn nur rotes Licht. Da wusste das Gehirn: «Es wird Abend. Schalte den Stoffwechsel um, von Serotonin auf Melatonin.»
Ein letzter Tipp: Man sollte ein Gefühl für die Frage entwickeln: Habe ich genug geschlafen oder nicht? Der Wecker unterbricht die körperliche Regeneration und den psychischen Wartungsvorgang. Diese Vorgänge dauern aber so lange, wie sie dauern. Verkürze ich den Schlaf, verkürze ich Wartung und baue ein Defizit auf. Wenn man zu wenig Schlaf hat, muss man also planen: Wann kann ich nachschlafen, mir etwas Schlafenszeit zurückgeben?
Sie haben eine einfache Technik, sagen Sie, mit der man sich auch tagsüber schnell und überall erholen kann. Wie schaut die aus?
Diese Technik hat uns die Biologie mitgegeben: das Nickerchen, heute bekannt als Power Nap. Wenn man müde ist, sich einfach mal hinlegen und zehn Minuten die Augen zumachen.
Wie stärken wir mit artgerechter Haltung unsere Widerstandskraft, die Resilienz?
Resilienz ist die Fähigkeit, mit kleinen oder grossen Problemen, die es jeden Tag, jede Woche gibt, gekonnt umzugehen. Sie dürfen einen nicht zu sehr belasten. Wie erreichen wir das? Indem wir uns physisch fit halten. Wie erwähnt: durch artgerechte Ernährung, Bewegung, guten Schlaf. Je fitter unser Körper, umso resilienter ist er. Schauen wir erneut auf die Zeit vor 40 000 Jahren: Wenn in der Steinzeit im Busch etwas raschelte, konnte das eine Maus sein, ein Eichhörnchen, aber auch etwas Grosses. Wenn ich nicht fit war, konnte ich es nicht drauf ankommen lassen – ich musste laufen. Wenn ich fit war, konnte ich sagen: «Warten wir mal, bis wir nähere Informationen haben. Rennen können wir immer noch.»
Auf dem Weg zu mehr Gelassenheit braucht es also mehr Achtung für den Körper und seine Bedürfnisse.
Das ist der körperliche Teil. Dazu kommt eine mentale Fähigkeit, ich erwähnte sie: Loslassen. Beispiel: Ich will einkaufen und fahre das Auto gegen einen Mast. Dann kann ich sagen «Mist, warum passiert mir das immer?» und mich drei Wochen damit beschäftigen. Oder ich sage: «Ja, ist halt passiert, Auto kaputt.» Ich lasse los. Dieses Loslassen mag unser Gehirn nicht so gerne. Denn der kleine Unfall bedeutete Kontrollverlust. Aber ich kann es trainieren. Das geht so ähnlich wie beim Change. Zuerst reingehen, auskotzen, bis alles raus ist. Dann sage ich mir: «Okay, ist so. Kann ich nicht ändern.» Und nun kann ich eine konstruktive Perspektive einnehmen: Was ist die Lösung? Wie lautet die Entscheidung? Und wenn es vorbei ist – was lerne ich daraus?
«Bewegung ist ein Superventil, um Stress loszuwerden, ein ganz natürliches biologisches Ventil. »
Sie versprechen eine Atemtechnik, mit der man es schafft, auch unter Druck überlegt zu handeln. Etwa: Der Chef kommt zehn Minuten vor Feierabend und sagt: «Diese Aufgabe muss noch erledigt werden.» Ich habe mich aber verabredet. Wie schaffe ich es, gelassen zu reagieren?
Eine Technik brauche ich hier nur, wenn es mich stresst. Manche Menschen stresst so ein Ansinnen nicht. Und falls doch ... Die erwähnte Technik passt in einen ein-fachen Vers, leicht zu merken: «Bevor ich explodier, atme ich langsam ein auf vier.» Bei Stress komme ich in den Kampf-Flucht-Mechanismus. Wenn ich aber lang-sam auf vier atme, springt das Hirn häufig wieder an. Und das sagt dann: «Komm, erledige die kleine Aufgabe. Es sind nur fünf Minuten.» Oder das Hirn sagt: «Geht nicht. Sonst verpasse ich den Bus.» Vielleicht kann ich eine Situation oder eine Person nicht kontrollieren, aber ich kann meine Atmung kontrollieren. Und damit gewinne ich wieder Kontrolle über das Denken. Diese Technik klappt nicht immer perfekt, doch Sie werden merken: Mit jeder Übungseinheit werden Sie besser. Probieren Sie es!
Zur Person
Dr. Martin Christian Morgenstern, Jahrgang 1973, ist Verhaltensforscher und Evolutionspsychologe. Er studierte Wirtschaftsrecht und promovierte in angewandter Psychologie. Seine Forschungsfelder sind mentale Stärke, Persönlichkeitsentwicklung, Motivation und Stressmanagement. Seit über 20 Jahren berät und trainiert er Führungskräfte aus Politik und Wirtschaft.
Seine Vortragsthemen:
Gelassen bleiben im Affenzirkus. Der Gorilla im Homeoffice. Warum Gorillas Bewegung lieben. Eine Affenbande führen. Cool bleiben trotz Change. Wenn der Affe einen Angsthasen trifft. Artgerechte Ernährung. Schlafen wie ein Murmeltier.