Jérôme Cosandey, Jahrgang 1970, studierte Maschinenbau an der ETH Zürich. 1999 promovierte er, später machte er einen Master in Wirtschaftsgeschichte. Er war Strategieberater bei The Boston Consulting Group, danach in leitender Stellung bei der UBS. 2011 wechselte Cosandey zur Stiftung Avenir Suisse, einem unabhängigen Thinktank. Sein Bereich dort als Directeur romand und Forschungsleiter heisst «tragbare», sprich: nachhaltige Sozialpolitik. Cosandey wohnt mit Partnerin und zwei Kindern in Biel.
Herr Cosandey, was macht die Stiftung Avenir Suisse, und was will sie?
Wir haben Förderer, die uns Geld geben, damit wir ökonomische und soziale Themen erforschen. Doch wir sind nicht beeinflussbar. Wir wollen das Sandkorn sein, das Sandkorn in der politischen Auster, aus dem einmal etwas Gutes entsteht. Wir kitzeln, wir stören, wir regen an, wir suchen Lösungen für unsere Gesellschaft.
Was wichtig ist: Vielfalt und Freiheit
Wie sieht die angestrebte Gesellschaft für Sie aus? Welche Dinge sind unverzichtbar?
Erstens: freie Meinungsäusserung. Die ist extrem wichtig, wir müssen ja nur nach Russland schauen. Zweitens: Vielfalt. Politische Vielfalt, eine Vielfalt der Organisationen, auch der Technologien. Eine dritte Sache, die unverzichtbar ist: Freiheit, aber eine Freiheit mit Verantwortung.
Sie schauen mit dem kühlen Blick des Forschers auf die Vorsorge in der Schweiz. Wie ist aus Ihrer Sicht der Zustand der zweiten Säule?
Kurzfristig gut. Mit der Pandemie haben wir eine grosse Krise durchgemacht, gleich danach rutschten wir in die nächste: Krieg in der Ukraine, Wertverfall am Aktienmarkt, Inflation. Und trotzdem haben die meisten Pensionskassen einen Puffer. Auf kurze Sicht ist das eine solide Situation.
«Die berufliche Vorsorge müssen wir endlich ins 21. Jahrhundert bringen.»
Rentenklau in umgekehrter Richtung
Solide Situation ... Warum ist dann die BVG-Reform so nötig?
Seit 1985 hat sich unsere Gesellschaft stark verändert. Die Menschen haben nicht mehr diese lineare Biografie, etwa eine Stelle bei der blpk von der Lehre bis zur Pensionierung. Wir müssen die berufliche Vorsorge endlich ins 21. Jahrhundert bringen. Aber, verrückt: Die Politik hat zwei Züge Verspätung!
Den Reformstau in der zweiten Säule gibt es seit Jahrzehnten. Wie kann man ihn auflösen?
Es braucht Öl für die Zahnräder der Politik. Damit sie sich wieder drehen. Dafür gibt es verschiedene Ölsorten und Ansätze. Mehr Möglichkeiten der Gestaltung für die Versicherten! Das wäre ein Ansatz. Und noch einer: Mehr Transparenz über die Quersubventionen. Pro Jahr fliessen fünf Milliarden Franken von den Jungen zu den Rentnern. Wir haben im Land die Rentenklaudebatte. Aber der Rentenklau erfolgt in umgekehrter Richtung!
«Die Lebenserwartung wächst täglich drei bis vier Stunden. Das ist extrem!»
Wir gehen mit 65 sehr früh in Pension
In der Schweiz haben wir eine der höchsten Lebenserwartungen der Welt, und sie nimmt täglich drei bis vier Stunden zu. Doch wir gehen mit 65 sehr früh in Pension. In siebzehn Industrieländern gilt Rentenalter 67 oder später oder ist zumindest beschlossen.
Die Lebenserwartung steigt im Schnitt um vier Stunden: Ernsthaft, jeden Tag?
Richtig. Also wenn das Gespräch heute langweilig war – keine Sorge: Sie haben mehr Zeit gewonnen, als Sie mit mir verbracht haben. (Er lacht schallend.) Das ist extrem!
Deutschland, Dänemark und andere erhöhen das Rentenalter jedes Jahr. Das würde vielleicht auch bei uns die politische Blockade lösen.
Wenn Sie die grosse Glaskugel vor sich hätten – was wäre die schlimmste Prognose für die Vorsorgelandschaft?
(Cosandey schweigt lange, denkt nach.) Das Schlimmste wäre, wenn sich nichts bewegt.