Von einem Tag auf den anderen ging es nicht mehr. Dabei hatten die Kollegen Andreas R. immer so bewundert. Er schien eine unerschöpfliche Energie zu haben, stets gute Laune, und er schaffte viel mehr weg als die meisten anderen. Doch eines Tages blieb R.s Schreibtischstuhl in der Personalabteilung eines grossen Autobauers plötzlich leer, und er blieb es für fast sechs Monate. R. war alles zu viel geworden. An einem Montagmorgen, kurz vor einem wichtigen Abgabetermin, weinte er nur noch. Die Diagnose: Depression.
Die heutige Arbeitswelt kann krank machen, das ist längst keine Frage mehr. Seit Jahren wachsen die Fehlzeiten wegen psychischer Leiden. Und es ist nicht davon auszugehen, dass das angesichts von Personalengpässen und wirtschaftlichem Druck bald besser werden wird. Bei dem Gedanken tröstet nur eines: Stress muss nicht zwangs-läufig krank machen, es gibt einen Schutzmantel dagegen, und der heisst: Resilienz. Hinter diesem Begriff verbirgt sich die faszinieren- de psychische Widerstandskraft, die Menschen dazu befähigt, Stress auszuhalten, Krisen zu überwinden und nach Niederlagen wieder aufzustehen.
«Resiliente Menschen wissen besser, was ihnen guttut, als weniger resiliente Menschen. »
Denn – das weiss ja im Grunde jeder Mensch aus seiner Alltagserfahrung: Der Stress ist nicht für jeden in gleichem Masse zerstörerisch. Welche Belastung ein Mensch aushält, ist höchst individuell und hängt auch von der Art der Belastung ab. Während ein Bekannter über Stress klagt, der doch ein eher ruhiges Leben zu führen scheint, drückt sich ein anderer locker noch ein paar Termine in seinen übervollen Kalender. Und während ein Mensch Zeitdruck ganz gut aushält, kann derselbe Mensch eine berufliche Niederlage womöglich nicht ertragen.
Das gilt im Übrigen nicht nur für Stress auf der Arbeit. Herausforderungen durchziehen das Leben, ob sie nun durch Krankheit ausgelöst werden, den Verlust eines Partners, einen Unfall oder finanzielle Schwierigkeiten. Immer ist der Umgang damit eine Frage der Resilienz.
Resilienz ist keine feste Grösse im Leben, man kann sie auch noch als Erwachsener lernen
Die gute Nachricht ist: Man kann seine psychische Widerstandskraft mehren. Denn Resilienz ist keine für alle Zeiten angelegte Charaktereigenschaft, sie ist nur am Rande eine Frage der Persönlichkeit. Vielmehr handelt es sich vor allem um eine Strategie. Wer resilient ist, kann sich Wege erschliessen, aus einem Schlamassel wieder herauszukommen. Er nimmt Krisen nicht so schwer. Natürlich sind auch resiliente Menschen nach einem Schicksalsschlag geknickt. Aber sie stehen bald wieder auf. Deshalb passt das Bild vom Stehaufmännchen gut.
Psychologen wissen inzwischen viel darüber, was Menschen resilient macht. Sie haben ganze Listen von Eigenschaften, Verhaltensweisen und äusseren Faktoren erstellt, die Menschen stark machen. Dazu gehören neben Selbstbewusstsein, Pragmatismus und positivem Denken auch Ausdauer, der Glaube an die Zukunft und Durchsetzungs-vermögen. Wichtig sind ausser- dem die Fähigkeit zur aktiven Problemlösung, Flexibilität und das Bewusstsein, dass es im Leben nun einmal schwierige Phasen gibt. Weiter sind Bindungsfähigkeit, verlässliche Bezugspersonen und soziale Kompetenz relevante Faktoren. «Ich schaff ’ das schon», sagen die Resilienten, sie haben Zuversicht und Vertrauen in sich selbst, und sie glauben fest daran, dass es die Welt öfter gut als schlecht mit ihnen meint.
Viele dieser Ressourcen werden Menschen zugegebenermassen schon in frühester Kindheit mitgegeben oder gar mit den Genen in die Wiege gelegt. Wer Eltern hatte, die einem eher den Mut nahmen als welchen zusprachen, hat es im späteren Leben schwerer. Aber Gene und Kindheit sind nicht alles. Das Leben geht weiter – und wie es weitergeht, das kann jeder Mensch für sich gestalten.
Es sind vor allem die eigenen Gedanken, die Krisen grösser oder kleiner machen
Das Wichtigste ist dabei, Beziehungen zu pflegen. Denn Bindung ist der wichtigste Schlüsselfaktor für Resilienz. Auch wenn einem vom Elternhaus nicht viel Liebe mitgegeben wurde: Ein soziales Netz auf-zubauen, auch am Arbeitsplatz, damit kann man jederzeit beginnen. Man braucht sie, die Kollegen und Freunde, die einem in schwierigen Situationen beistehen. Und man braucht sie auch, damit man ihnen zur Seite steht. Wer gemeinsam mit anderen nach Lösungen sucht, der findet leichter Lösungen – auch für sich selbst.
Der zweite wichtige Schritt ist es, sich auch selbst liebevoll zu begegnen und sich kennenzulernen. Auf welchem Weg man persönlich eine schwierige Situation am besten bewältigt, lässt sich eben am ehesten herausfinden, wenn man sich gut kennt. Resiliente Menschen wissen besser, was ihnen guttut, als weniger resiliente Menschen. Es ist deshalb sehr gesund, immer wie- der zu überprüfen, ob man sich zum Beispiel mit den richtigen Menschen umgibt. Ist da jemand, der einen immer runterzieht, der nur meckert? Vielleicht gibt es dann doch jemanden, mit dem der Kontakt schöner ist.
Der dritte wichtige Schritt ist, sich in Akzeptanz zu üben. Es ist schon so, das Leben meint es nicht immer gut mit einem – auf der Arbeit nicht und auch nicht im Privaten. Immer wieder flattern einem Dinge ins Haus, die man nirgends bestellt hat, weder beim lieben Gott noch bei Amazon. Und doch muss man mit ihnen umgehen. Eine gewisse Offenheit für solche unliebsamen Veränderungen kann helfen, sich besser mit ihnen zu arrangieren. Man muss (und sollte auch nicht) alles hinnehmen. Aber wenn nun einmal Dinge geschehen, die man nicht ändern kann, dann hilft es, sie zu akzeptieren. Und vielleicht gelingt es sogar, sich zu fragen, ob sie nicht doch für irgendetwas gut sein können und ob sie wirklich so tragisch sind: «Wer weiss, wofür’s gut ist?» – «Kann ich das, was da gerade passiert ist, auch anders sehen?» – «Ist das jetzt wirklich so schlimm oder ist es in ein paar Tagen nicht sowieso vergessen?» – Das alles sind Fragen, die einem helfen, Dinge nicht so schwer zu nehmen.
Jeden Tag passieren auch schöne Dinge - man kann auch üben, sie zu sehen
Ohnehin: Es hilft der Seele, gesund zu bleiben, wenn man seinen Blick für das Gute in der Welt öffnet. Bei allem Unliebsamen, was einem begegnet: Jeden Tag passieren auch schöne Dinge, und es tut gut, wenn man diese Dinge auch sieht. Es fällt einem ja oft schwer, das Schöne überhaupt wahrzunehmen, wenn man sich über sehr viel ärgert. Und wenn man sich, wie das oft empfohlen wird, abends an das Gute erinnern soll, dann gelingt das oft gar nicht. Da kann es helfen, wenn man sich fünf Steinchen in die eine Hosentasche tut und jedes Mal, wenn etwas Schönes passiert, innehält, sich freut und ein Steinchen in die andere Hosentasche verräumt. So wird man sehen, wie schnell die Steinchen die Plätze gewechselt haben. Man erkennt, dass es die Welt häufig gut mit einem meint.
Solche Techniken mögen einfach und manchem auch zu einfach klingen. Aber sie sind hocheffektiv:
Wer nur sechs Wochen lang seine Gedanken in dieser Weise trainiert, hat weniger depressive Symptome, das wurde in unzähligen Studien nachgewiesen. Das Training der Resilienz heilt keine Depression, aber es kann psychischen Erkrankungen vorbeugen. Am besten, wir fangen gleich heute damit an.
Zur Person
Dr. Christina Berndt ist Autorin des Bestsellers «Resilienz – das Geheimnis der psychischen Widerstands-kraft», der kürzlich in einer völlig überarbeiteten Neuauflage erschienen ist. In ihrem neuesten Buch beschäftigt sie sich mit dem Thema «Die Rundum-Gesund-Formel – Das Zusammenspiel von Psyche, Nerven und Immunsystem gezielt stärken» (dtv München)