Die Sonnentankstelle

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20. März 2022

Psychiatrie? Ist ein Wort, das Angst machte. Aber das war früher. In Baselland weckt das Wort heute Hoffnung. Denn dahinter stehen Menschen, die helfen.

Was zuerst auffällt: die harten Kontraste. Schatten, Licht und starke Farben – Rot, Gelb, Graugrün. Dann sieht man Blumen, Klatschmohn. Und später die Schrift, blasse Notizen. Sie laufen über das Grün im Hintergrund, das Rot der Blüten.

Das Bild, Photo-Art, hängt im Büro von Barbara Schunk, CEO der Psychiatrie Baselland. Der Künstler ist hier Oberarzt in der Zentralen Aufnahme. «Das Werk gehört zu einer Serie mit Blumen», sagt Schunk.  «Parallel zu den Blumen sieht man stark verfremdete Passagen aus Gesprächen. Dieses Bild ist ein Spiegel. Es vermittelt Hoffnung, ohne die Wirklichkeit auszublenden.»

Das Büro von Frau Schunk liegt in Liestal. Im Gespräch mit dabei, ebenfalls aus Liestal, ist Dr. Brigitte ContinWaldvogel, die Direktorin und Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Das Interview läuft per Video, die Pandemie ist noch nicht ganz vorüber. Schon sind wir beim ersten Thema.

Die Unsicherheit der Corona-Zeit

Sie hatte eben diese neue, faszinierende Funktion übernommen, 2019, als Leiterin der Psychiatrie Baselland. Sie war also noch frisch im Unternehmen, erzählt Barbara Schunk, und dann begann Corona. «Plötzlich konnte ich nicht mehr raus. Kein Austausch. Grosse Unsicherheit, ständig neue Informationen.» Es kamen mehr Patienten in die Psychiatrie. Weil das Umfeld bröckelte. Weil mancher die Stelle verlor oder daheim Streit ausbrach. Und mehr Menschen bekamen Angst. «Wir hatten zum Glück schnell eine schlagkräftige Corona-Taskforce», sagt Schunk.

«Es kamen mehr Patienten in die Psychiatrie. Weil das Umfeld bröckelte. Weil mancher die Stelle verlor oder daheim Streit ausbrach. »

- Barbara Schunk

Bei der Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) lief trotz Pandemie ein grosses Projekt: der Umzug in ein neues Klinikgebäude, Liestal, Goldbrunnenstrasse 11. Wie erlebten die jungen Leute die Corona-Zeit?

Dr. Contin: «Die Lernbegeisterten wurden in der Krise noch kreativer. Andere, die mit Lernen nicht viel am Hut haben, liessen alles schleifen.» Während der Pandemie stieg die Zahl der Depressionen. Und mehr junge Leute waren suizidgefährdet. Liestal betreut besonders gefährdete Jugendliche und Kinder aus drei Kantonen – Baselland, Basel, Solothurn.

Zwanzig Marken Zahnpasta

Corona hat Trends hervorgekehrt und andere Trends verstärkt. Welche Phänomene sind Ihnen aufgefallen?

Contin: «Das ist neu: Eltern kommen mit Anwälten, wenn sie für ihre Kinder etwas durchsetzen wollen. Oder wie schwierig es für junge Leute ist, sich in der Vielfalt zurechtzufinden. Wie wenn man in einen Laden geht: Früher gab es drei Marken Zahnpasta, heute sind es zwanzig. Und dann die Diskussion über die neuen Themen – was ist korrekt, was nicht? Jeder kämpft für seine Rechte. Jeder kontaktiert auch Dr. Google (Sie spricht es ‹Gooogle›, mit langem O), und danach gibt es noch mehr Fragen.»

Unsere Welt wird digitaler. Verändern sich damit die psychischen Belastungen, die Krankheitsbilder?

Contin: «Unsere Jugendlichen sind alle Digital Natives. Ein Nachteil: Manche Jungen fallen in eine Game- sucht. Sie spielen bis in die Nacht, sind morgens müde, verweigern die Schule. Die kommen dann zu uns. Ich hatte einen Spielsüchtigen, der hat sein Zimmer nicht mehr verlassen, weil er nicht mehr aufstehen wollte. Mädchen lassen sich eher von Influencern beeinflussen. Germany’s Next Topmodel, das kennen alle. Ernährung wird zur Ersatzreligion. Schönheitsideale lösen Essstörungen aus. Diese Jugendlichen kommen dann auch wieder zu uns. Die Arbeit geht uns nicht aus!»

Das böse Bild der Psychiatrie

Jeder Zweite, sagt Frau Contin, kann im Lauf seines Lebens psychisch erkranken. Mit anderen Worten: « Der Psyche kann man nicht entfleuchen.» Erst seit dem 19. Jahrhundert werden psychische Leiden als Krankheit eingestuft. Und der Ort dieser Leiden war einst ein böser Ort. Die Irrenanstalt. Man denke an Nietzsches Schicksal in Basel und Jena. Oder an den Komponisten Antonio Salieri im Filmdrama «Amadeus» von 1984.

Contin: «Die Psychiatrien sind überall ausserhalb der Stadtmauern gebaut worden. Auch in Basel. Oder in Liestal das Hasenbühl. Ich wusste schon immer, ich gehe in die Psychiatrie. Studienkollegen sagten mir vor vierzig Jahren: Wieso willst du dein Talent vergeuden?»

Warum sind Sie dennoch Psychiaterin geworden?

Contin: «Weil ich kommunikativ und offen bin. Seit der Jugend erzählen mir alle meine Kollegen ihre Probleme. Das war früher belastend, denn ich konnte nicht damit umgehen. Da will jemand dies und jenes repariert haben, und Sie wissen nicht, was tun. Heute habe ich das Werkzeug!»

«Verstehen. Vertrauen.»

Der Ruf der Psychiatrie, er habe sich gewandelt, sagen Frau Contin und Frau Schunk. Sie sei nicht mehr das «Schreckgespenst», vielmehr in aller Munde, zugänglich.

«Verstehen. Vertrauen.» Das ist der Leitspruch der Psychiatrie Baselland (PBL). Das Unternehmen lässt derzeit viel bauen, die neuen Gebäude spiegeln die neuen Werte. Das «Zentrum für psychische Gesundheit» etwa, ein freundlicher Sechsgeschosser zentral in Binningen. 1974 errichtet als Wohn- und Gewerbehaus, bis Ende 2020 umgebaut und dann von der Psychiatrie Baselland gemietet. Freitreppe, Säulen, begrünte Terrasse, dazu ein Fassadenkleid, luftig, gerundet, aus Glas und Terrakotta-Stäben.

Oder schauen wir auf den Neubau der «Kinder- und Jugendpsychiatrie» am Campus in Liestal, 2021 bezogen. Eine Augenweide ist dieser Bau:  fünfeckig, am Hang. Also asymmetrisch und dennoch harmonisch, wie der Mensch, wie die Patienten. Hinterm Haus liegt ein Park, im Innern ein Hof. Die Hülle besteht hier aus schmalen Blechen; Licht und Schatten spielen.

Durchlässig sind die Fassaden dieser Häuser, fast durchsichtig. Als wollten sie sagen: Seht her, wir haben nichts zu verbergen. – Bis 2025 kommen weitere Neubauten hinzu, für etwa 120 Millionen Franken.

«In jeder Klasse hat es im Schnitt zwei Jugendliche, die Probleme haben.»

- Dr. Brigitte Contin-Waldvogel

Miteinander reden

«Verstehen, vertrauen.» Die Mitarbeitenden erfüllen den Leitspruch mit Leben. Sie reissen Vorurteile nieder, die den Begriff «Psychiatrie» wie Zäune umstanden, sie räumen Steine aus dem Weg. Ganz ohne Metaphern heisst das zum Beispiel: Spezialisten der PBL gehen in Schulen. Sie ermuntern zum Reden, und sie reden selbst – über psychische Gesundheit.

Contin: «Zwei Kolleginnen machen das vorerst in zwei Schulen. In einem Gymnasium haben wir schon länger eine Sprechstunde. Schülerinnen und Schüler sprechen über ihre Probleme. Dann entscheiden wir: Okay, du brauchst eine Therapie. Oder: Die Gespräche vor Ort reichen. Ich höre sehr positives Feedback. Und die Nachfrage steigt.»

Die Psychiatrie steht nicht mehr draussen, vor den Mauern, sie geht hinein in die Gesellschaft. Wie können Sie selbst diesen Prozess unterstützen?

Contin: «Indem wir uns als normale Menschen zeigen, nicht als Psychos mit Röntgenblick. Psychiatrische Erkrankungen sind kein Stigma, das wollen wir zeigen. Wir sagen: In jeder Klasse hat es im Schnitt zwei Jugendliche, die Probleme haben.»

Zur Erfolgsgeschichte der PBL gehören Patientengeschichten, Schicksale wie dasjenige von Franz S., der viel getrunken hat und heute für seine Leidenschaft lebt: Schreiben. Auf der Website kann man über ihn lesen: «Zurück ins Leben. Ich habe meinen Weg gefunden.»

Geschichten können auch ganz anders klingen. Welche Fälle bleiben in Erinnerung?

Contin: «Ich denke an Jugendliche, die von ihren Eltern nicht unterstützt werden. Kein Kontakt zum Vater, die Mutter psychisch krank. Diese Jugendlichen sind wie heimatlos. Es gibt auch Kinder, die ihre Eltern psychisch an die Grenze bringen. Eine Mutter sagte: ‹Wenn ich mein Kind wieder mit nach Hause nehmen muss, heisst das für mich Friedhof einfach.› Ich könnte sie auch gleich auf den Friedhof bringen. Das war hart.»

«Bleiben Sie in Kontakt, damit Sie nicht vereinsamen.»

- Barbara Schunk

Resilienz, das Zauberwort

Was können wir tun, um mit hohen Belastungen besser klarzukommen?

Contin: «Da gibt es dieses Zauberwort: Resilienz, Widerstandsfähigkeit.»

Was kann ich machen, um meine Resilienz zu stärken?

Schunk: «Bleiben Sie in Kontakt, damit Sie nicht vereinsamen. Auch ich muss raus. Ich treffe mich mit Freunden, treibe Sport. Ich merke:  Wenn ich nur noch arbeite, im Dunkeln gehe, im Dunkeln heimkomme, tut mir das nicht gut.»

Contin: «Nutzen Sie die zehn Impulse, wie der Kanton sie empfiehlt. Fressen Sie Probleme nicht in sich hinein. Suchen Sie Ihre Inseln, Orte des Rückzugs. Auch kleine Dinge sind wichtig: Wir sollten jeden Tag dankbar sein, dass wir gesund sind. Oder dass die Vögel zwitschern. Wir müssen bescheidener werden! Weg mit dem Perfektionismus. Denn der fördert Depressionen.»

«Menschen, die krank sind, sollen bei uns auftanken können. »

- Dr. Brigitte Contin-Waldvogel

Wir machen uns ein Bild

Psychiatrie und Kunst – die zwei gehören schon über hundert Jahre zusammen. Seit Jahrzehnten gibt es Kunsttherapie.

Contin: «Man sagt ja, Kinderpsychiater seien die Künstler unter den Ärzten. Unsere Kunstprojekte sind die Zeichnungen der Kinder. Ich hatte ein sehr berührendes Erlebnis. Ein Mädchen hat seine Familie gemalt. Wer gehört dazu? Mami und Papi – und ihre neuen Partner. Dazu malte es ihre Herzen. Dann hat es das Herz von Mami und Papi ausgeschnitten, durchgeschnitten und ein Mami- und Papi-Herz wie-der zusammengeklebt. Es wollte die Eltern zusammenbringen. Das sehen wir immer wieder.»

Seit 2001 existiert in Baselland das Projekt «Kunst in der Psychiatrie».

Schunk: «Wir holen immer wieder Künstler zu uns ins Haus und machen Ausstellungen. So öffnet sich die Psychiatrie. Menschen kommen herein, besuchen uns, finden einen Zugang.»

2021 gab es im Rahmen des Projekts etwas ganz Besonderes – die Ausstellung «Ohne Worte». Patienten und Kunstschaffende hatten zuvor Dialoge geführt, monatelang, aber nur mithilfe eigener Kunstwerke. Schickst du mir ein Stück, schick ich dir eins, zur Antwort.

Schunk: «Am Anfang dachten wir, die Patienten der Psychiatrie möchten sich vielleicht nicht outen. Wir haben ihre Bilder deshalb mit Kürzeln versehen. Aber schnell sagten viele: Wir wollen auch mit Namen dastehen!»

Hier finden Sie den Katalog zur Ausstellung: www.pbl.ch/ psychiatrie-baselland-publiziert-ein-kunstbuch

«Mir kommt die Sonne in den Sinn»

Frau Schunk, Frau Contin, das wollen wir noch wissen: Wo sehen Sie die Psychiatrie Baselland in einigen Jahren?

Schunk: «Bis 2025 errichten wir die schönen Hüllen, unsere neuen Klinikgebäude. Ich wünsche mir, dass die Psychiatrie diese Hüllen auch gut ausfüllt, mit modernen Angeboten.»

Contin: «Ein Motto von uns lautet: Wir gehen mit Strahlkraft in die Zukunft. Bei Strahlkraft kommt mir die Sonne in den Sinn. Wir füllen die neuen Gebäude mit Wärme und Licht. Menschen, die krank sind, sollen bei uns auftanken können. Wie an einer Sonnentankstelle. Das Bild habe ich.»

Ihr Vater, meint Frau Contin, klopfe gern lateinische Sprüche. Einer sei ihr in Fleisch und Blut übergegangen: «Quidquid agis, prudenter agas et respice finem.» Was immer du tust, heisst das, schaue voraus und denk an die Folgen. Klingt vernünftig. Wie eine weitere Maxime der Psychiatrie Baselland.

Die Gesprächspartnerinnen

Barbara Schunk, CEO der Psychiatrie Baselland
  • Sie ist in der Region verwurzelt: im Fricktal aufgewachsen, wohnhaft im Aargau. Verheiratet, zwei erwachsene Kinder.
  • Hat in Basel Wirtschaft studiert. Arbeitete in Banken. War auch lange beim Kanton, im Standortmarketing.
  • Ab 2009 Leiterin Unternehmensstab bei den Psychiatrischen Diensten Aargau. Ab 2014 Direktorin des Spitals Dornach.
  • Seit Mitte 2019 in der Psychiatrie Baselland.
Dr. Brigitte Contin-Waldvogel, Direktorin und Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie BL
  • «Ich bin typische Baselbieterin.» Sie wuchs in Binningen auf, studierte in Basel Medizin, heiratete einen Studienfreund; zwei Töchter.
  • Nach dem Studium drei Jahre im Tessin, es zog sie zurück. «Ich wollte hier eine Praxis aufmachen.» Doch die Arbeit in Kliniken war spannender.
  • 27 Jahre in der Psychiatrie. «Ich habe grossen Überblick, bin vernetzt im Kanton.»
  • Ihre jetzige Funktion hat sie seit über zehn Jahren.