Die Tour Nummer zwei beginnt bei der Gassenküche an der Markgräflerstrasse. Lilian Senn und Heiko Schmitz warten bereits; man erkennt sie an den roten Jacken mit dem Surprise-Logo. Beide waren bis vor einer Weile obdachlos. In den nächsten zwei Stunden werden sie eine Gruppe von Interessierten, darunter auch zwei Jugendliche, durch Basel führen.
Die Tour führt zu Institutionen und Orten, die für Menschen wie sie wichtig sind – Menschen in Armut. Tour Nummer zwei ist einer von sechs sogenannten sozialen Stadt-rundgängen des Vereins Surprise in Basel. Ähnliche Rundgänge gibt es in Bern und Zürich. In den letzten neun Jahren nahmen über 80 000 Menschen daran teil. Cathérine Merz, Hanspeter Gysin und Hans-Georg Heimann gründeten 1993 mit finanzieller Unterstützung des RAV eine Arbeitslosenzeitung, die heute «Surprise» heisst und von einer professionellen Redaktion er- stellt wird. Arbeitslose oder Menschen mit zu geringem Einkommen können sich mit dem Verkauf des Strassenmagazins einen Zustupf verdienen. Mittlerweile gibt es auch einen Surprise-Strassenchor sowie weitere Projekte, unter anderem die sozialen Stadtrundgänge.
Jede Mahlzeit für drei Franken
Die Gassenküche ist für Lilian Senn und Heiko Schmitz so ein besonderer Ort. Bis Ende Februar 2021 befand sie sich am Lindenberg. «Der Platz war zwar urgemütlich, aber viel zu eng», meint Schmitz, 55. Schwester Rebekka Breitenmoser von der Pfarrei St. Clara engagierte sich für den neuen Standort an der Markgräflerstrasse hinter der Bläsi-Kirche.
«Hier leben Menschen, die durch alle Maschen der Gesellschaft gefallen sind.»
Achtzig Menschen erhalten hier gratis Frühstück, das Abendessen kostet drei Franken. Täglich stehen zwei bis drei freiwillige Helferinnen und Helfer im Einsatz, im Jahr helfen über fünfzig Personen mit, die Mahlzeiten zuzubereiten und zu verteilen.
«Der Ort ist für Obdachlose und Armutsbetroffene zentral», berichtet Heiko Schmitz. «Als ich obdach-los war, war das warme Getränk am Morgen enorm wichtig. Und abends war die Küche meine letzte Station, bevor sie um 19.30 Uhr schloss und ich zurück auf die Strasse ging.» – «Ist das die einzige Möglichkeit für Obdachlose, etwas zu essen zu erhalten?», will eine Teilnehmerin wissen. «In Basel gibt es noch das Soup and Chill», antwortet Schmitz. «Im Winter hat das Lokal hinter dem Bahnhof bis 21 Uhr offen.»
Drogenkonsum erlaubt
Zweite Station der Gruppe: die Oase Elim am Claragraben, betrieben von der diakonischen Stadtarbeit. In der Oase wohnen Menschen mit Suchtproblemen, die durchgängig betreut werden, später aber auch in eine Wohnung wechseln können, wo ihre Betreuung ihren Bedürfnissen angepasst wird. «Hier leben Menschen, die durch alle Maschen der Gesellschaft gefallen sind», sagt Heiko Schmitz. Das Besondere an diesem Ort: «Die Menschen dürfen auf ihren Zimmern Drogen konsumieren, sie werden nicht zum Entzug gedrängt. Man versucht es durch Gespräche, also auf die sanfte Art. Denn eine Suchttherapie, die aufgezwungen wird, führt nie zum Erfolg.» Heiko Schmitz weiss, wovon er spricht; er war Alkoholiker.
Die 29 stationären Wohnplätze sind seit zwei Jahren ausgebucht, es gibt lange Wartelisten. Zusammen mit den Plätzen im ambulant begleiteten Wohnen leben ungefähr neunzig Menschen unter dem Dach der Oase. Schmitz: «Die Leute wohnen hier nicht nur. Sie erhalten auch medizinische Betreuung, und manche sterben in der Oase. Im Haus hat es eine Kapelle.»
Der Park als Wohnzimmer
Die Gruppe gelangt zur Claramatte, einer öffentlichen Grünanlage. Station Nummer drei. «Parks wie dieser sind für viele Obdachlose das Wohnzimmer», erzählt Lilian Senn. Doch Obdachlose seien nicht gerne gesehen. Immer wieder kontrolliere man ihre Ausweise, berichtet sie. Und die Parkbänke an der Clarastrasse seien so gebaut, dass man unmöglich darauf schlafen könne. «Haben Sie die Bänke ausprobiert?», so eine Frage aus dem Publikum. «Habe ich», so Heiko Schmitz. «Es ist wirklich unmöglich, darauf zu liegen.»
Sie selbst sei obdachlos, seit sie zur Welt kam, sagt Lilian Senn. «Meine Mutter wurde verstossen und konnte mich nicht versorgen. Ich wurde in meiner Zeugungsfamilie von Verwandten und vom Stiefvater sexuell missbraucht. Doch die Pflegefamilie, in die ich kam, war gut.» Sie machte eine Lehre als Floristin, heiratete, bekam zwei Söhne. Es folgten Burn-out, Scheidung nach zwanzig Jahren, Arbeitslosigkeit, Schulden. «Wenn man die Fix-kosten nicht mehr bezahlen kann, steckt man in der Schuldenfalle. Am schlimmsten sind die Krankenkassenprämien und die Steuern.»
Sozialhilfebezügerin wollte Senn nie werden. «Da bist du dem Staat ausgeliefert. Denn sobald du wieder verdienst, kann er Geld zurückverlangen.» Sie beschloss, auf der Gasse zu leben.
«Er hat ein feines Herz»
Auf der Suche nach einem Job begegnete sie Heiko. «Ich mochte ihn nicht besonders, er war damals Alkoholiker.» Doch sie liefen sich immer wieder über den Weg. «Irgendwann fragte er mich, ob ich Stadtführerin bei Surprise werden wollte. Dadurch lernte ich ihn besser kennen. Und ich merkte: Er hat ein feines Herz. So habe ich mich in ihn verliebt.»
Ein Journalist des Strassenmagazins «Surprise» hat die Liebesgeschichte von Lilian Senn und Heiko Schmitz veröffentlicht. Dort hat René Thoma, Geschäftsleiter der Wohn-baugenossenschaft Nordwest, die Geschichte gelesen und er bot den beiden eine Wohnung an. «Ich habe euch im Fernsehen gesehen», erzählt eine Teilnehmerin des Rundgangs. «Richtig, wir sind ganz grosse Stars», lacht Lilian Senn. Der 20-minütige Dokumentarfilm «Leben und Liebe auf der Gasse» ist heute auf Youtube zu finden.
Ebenso wurde Lilian Senn im SRF-Dokumentarfilm «Im Spiegel – vom Leben im Verborgenen» porträtiert.
«Ich empfinde viel Liebe und Achtung gegenüber den Menschen, die auf der Gasse leben.»
Seit 2018 lebt das Paar nun in einer 2 1/2-Zimmer-Wohnung im Kleinbasel, mittlerweile sind sie verheiratet. «Mit Heiko in derselben Firma zu arbeiten, gibt mir Kraft», erzählt Lilian Senn. «Man kann einander auf-bauen. Aber die Armut hat sich nicht verflüchtigt.»
Ein Schuldenberg von 100 000 Franken
Weiter führt der Rundgang durch die Ochsengasse. Station vier, zur Schuldenberatung «Plusminus». Senn: «Hier kann sich jede und je- der mit finanziellen Problemen hinwenden. Die Schulden wird man natürlich nicht los. Aber gemeinsam schaut man, was sich machen lässt.» Lilian Senn redet offen über ihren Schuldenberg – über 100 000 Franken.
Fünfte Station und ein weiterer wichtiger Ort im Leben von Lilian Senn und Heiko Schmitz ist der Caritas-Lebensmittelmarkt an der Ochsengasse 12. Man braucht einen Ausweis, einen Beleg, dass man unter der Armutsgrenze lebt. Mit diesem Ausweis kann man hier bis zu fünfzig Prozent günstiger einkaufen. «Damit sparen wir dreissig bis fünfzig Franken pro Woche», sagt Senn. «Die Ware ist sehr gut, nicht abgelaufen.»
Station Nummer sechs, das Männerwohnheim der Heilsarmee an der Rheingasse. Es bietet circa fünfzig Plätze mit Vollpension. «Meistens ist es ausgebucht», weiss Heiko Schmitz. «Wer darf hier übernachten?», will jemand aus der Gruppe wissen. «Menschen, die Sozialhilfe oder eine IV-Rente bekommen.»
Heiko Schmitz, ein gebürtiger Deutscher, hätte vermutlich Anspruch auf Sozialhilfe, hat sie aber nie beantragt. «Ich war psychisch dazu nicht in der Lage. Ausserdem war meine Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz abgelaufen.»
Liebe, Achtung und Erfahrung
Siebter und letzter Punkt der Tour: das ökumenische Zentrum Kleinbasels, der Hatstätterhof, am Lindenberg 12. Die Sozialberatung der Caritas ist hier eingemietet. Schmitz und Senn schwärmen vom Kleider-laden der Caritas am Lindenberg. Sie besuchen ihn regelmässig, es gibt dort gute, günstige Kleidung. Besonders schätzt Lilian Senn es, dass ihr die Ladeninhaberin regel-mässig Schuhe mit der Grösse 42 zur Seite legt. «Es ist für mich nicht einfach, Schuhe in dieser Grösse zu finden.»
Heiko Schmitz zieht Bilanz. Dreieinhalb Jahre habe er auf der Gasse gelebt, diese Zeit wolle er nicht missen. «Ich habe so tolle Leute kennengelernt.» Lilian Senn ergänzt: «Ich empfinde viel Liebe und Achtung gegenüber den Menschen, die auf der Gasse leben. Die Erfahrungen, die ich mit ihnen teilte, haben mir viel gebracht.»
Und warum machen die beiden diese Stadtrundgänge durch Basel? Sie wollen Klischees entgegentreten, sagen sie. Klischees über Arme und Obdachlose. «Jeder soll wissen: Ein einziges Ereignis reicht manchmal – und man kann tief fallen.»